Zum Inhalt springen
Startseite » Podcast » Liebe, Demokratie und Perspektivwechsel

Liebe, Demokratie und Perspektivwechsel

    Gedanken zum Perspektivwechsel in der Paartherapie

    Wenn du es schaffst, in einem Streit oder einem Missverständnis die Perspektive des anderen einzunehmen, dann musst du deinen eigenen Standpunkt – zumindest vorübergehend – verlassen. Wie das geht, was das mit Demokratie zu tun hat und warum du dann mehr du selbst bist, wird in dieser Podcast-Episode erklärt.

    Youtube, Spotify, Apple Podcasts

    Zurück zu allen Podcasts

    Liebe, Demokratie und Perspektivwechsel

    Das heutige Thema ist: Liebe, Demokratie und Perspektivwechsel. Und: Wie kannst du durch eine Paartherapie mehr zu dem werden, der du bist?

    Streit und Rechthaberei

    Vielleicht kennst du diesen Cartoon. Jemand hat eine einstellige Zahl auf den Fußboden geschrieben. Die Ziffer ist über einen Meter groß. Und jetzt stehen zwei Männer dort und betrachten das auf den Boden Geschriebene. Sie stehen sich gegenüber, die Zahl liegt zwischen ihnen. Für jeden von beiden ist unten dort, wo er selbst steht. Der eine sieht eine Sechs – und der andere eine Neun. Jetzt könnten sich die beiden streiten – und versuchen, den anderen von dessen Irrtum zu überzeugen. Und zwar, um selbst Recht zu behalten. Aber in diesem Fall haben sie Glück, es gibt kein böses Blut. Denn die beiden sind lupenreine Demokraten. Demokratie bedeutet ja nicht nur, dass das Volk sich selbst verwaltet, sondern auch, dass du andere Meinungen gelten lässt, und zwar nicht nur auf eine höflich-arrogante Weise, in der du weißt, dass du natürlich recht hast und der andere falschliegt, sondern indem du die Meinung des anderen ernst nimmst – vielleicht mit Erstaunen oder sogar Widerwillen, aber dennoch ernsthaft entschlossen bist, dich damit zu beschäftigen.
    Der eine sagt also: „Es ist eine Neun.“
    Der andere erwidert: „Nein, mein Guter. Es ist eine Sechs.“
    Und dann verbeugen sich die beiden Ehrenmänner voreinander und sagen: „Ich verstehe. Sie sehen es anders als ich, bitte erklären Sie mir, wie Sie zu Ihrer Schlussfolgerung kommen.“
    Dann wird sich die Sache mit der sechs und der neun schnell klären lassen. Es war alles nur eine Frage der Perspektive.
    Bei Zahlen gibt es keine Wahrheit, die man mithilfe einer Abstimmung findet, denn Zahlen sind absolut. Neun Äpfel sind neun Äpfel, da kann man zählen, so oft man will. Da ist es auch egal, ob sie nach Größe oder nach Farbe sortiert sind. Zahlen können aber interpretiert werden, um eine Bedeutung aus ihnen abzuleiten. Das weiß jeder, der sich schon einmal mit Statistiken beschäftigt hat.
    In diesem Fall handelt es sich ja noch nicht einmal um eine Zahl, sondern nur um eine Ziffer, ein Zahlzeichen. Je nachdem, welche Position du einnimmst, kannst du aus der Ziffer die eine oder die andere Zahl herauslesen.

    Das Problem mit den Emotionen

    Und nun zur Paartherapie. In dieser Hinsicht ist sie auch eine demokratische Veranstaltung. Es findet zwar keine Abstimmung oder Wahl statt, um die Wahrheit festzulegen. Aber man versucht in der Paartherapie, den anderen und seine Perspektive ernst zu nehmen. Selbst dann, wenn du dir absolut sicher bist, dass du recht hast mit deiner Interpretation dessen, was in der Beziehung geschieht.
    Anders als bei dem Beispiel mit der Ziffer und den zwei Männern, ist das in einer Paarbeziehung richtig schwierig. Bei Problemen mit Paaren geht es nämlich immer sehr emotional zu. Und Emotionen – so schön sie auch oft sind – vernebeln den Verstand. Emotionen können dich wie ein Tsunami überschwemmen und Besitz von dir ergreifen. Außerdem geht es dort um nichts Äußeres – wie eine Ziffer, die man so oder anders lesen kann. Sondern es geht um die eigenen kindlichen und nicht selten kindischen Muster, die tief in dir selbst angelegt sind. Und obwohl diese Muster dir Schmerzen verursachen, verteidigst du sie bis aufs Blut.
    Falls du dich jetzt gerade an eine Auseinandersetzung erinnern kannst, die du mit deinem Partner oder deiner Partnerin gehabt hast, dann versuche sie dir noch einmal bewusst zu machen.

    Kleiner Anlass – große Verletzung

    Oft weiß man später nicht einmal mehr, worum es in der Sache ging. Und wenn man es doch weiß, dann war es nicht selten eine lächerliche Kleinigkeit, um die sich Erwachsene normalerweise niemals streiten würden. Es geht nämlich meistens um etwas anderes. Nicht selten geht es letztendlich darum, dass der andere einfach nicht verstehen will oder zu blöd ist zu erkennen, was dir schon lange klar ist. Der andere macht aus einer Mücke einen Elefanten oder hat offenbar die Bedeutung der eigenen Sprache vergessen. Da muss man sich schon richtig zusammenreißen, damit man keine Schimpfwörter benutzt, um den anderen auf dessen gestörten Realitätssinn eindrücklich aufmerksam zu machen.
    Anschließend sind dann beide verletzt, – natürlich zu Recht. Und sie überlegen, was für einen Sinn es überhaupt noch hat, mit dem anderen zusammen zu sein. Was für eine Verschwendung von Zeit und Energie.

    Zuhören als Reifungsprozess

    In der Paartherapie bekommt man dann die einzigartige Möglichkeit, dem anderen mal zuzuhören – und aus dem Rechthaben-Wollen ins Verstehen-Wollen zu wechseln. Es klingt wie ein kleiner Schritt, aber es ist ein immenser, ein weiter Sprung – von der einen in eine wesentlich andere Realität, die Realität des anderen. Und dieser Sprung muss auch noch ohne Netz und doppelten Boden geschehen. Denn du weißt vorher nicht, ob dein Partner oder deine Partnerin dasselbe Kunststück fertigbringt.
    Der Sprung bedeutet, dass du deine eigenen Muster und Überzeugungen fallen lässt. Es ist schwierig, denn du hast das Gefühl, dich selbst zu verraten, wenn du das tust. Die Wahrheit ist aber, dass du in diesem Sprung mehr zu dem wirst, der du bist.
    Das hat vor allem damit zu tun, dass der andere in dir nur diejenigen Emotionen und Muster anregt, die vorher schon da waren. Dein Partner oder deine Partnerin kann nichts auslösen, was nicht schon vorher in dir angelegt war. Du kannst dir ein Muster, das eine Emotion auslöst, vorstellen wie eine CD oder eine MP3. Sie sind das Muster, und die Musik, die in ihnen abgespeichert ist, ist die Emotion. Wenn die CD oder MP3 nicht vorhanden ist, kann sie auch nicht abgespielt werden. Insofern verlässt du beim Schritt aus deinen eigenen Mustern und gelernten Überzeugungen nur etwas Gewordenes. Ohne sie bleibt der übrig, der du bist.
    In diesem Sinn liegt in einer Paartherapie immer die Chance, mehr du selbst zu werden, dich selbst zu heilen und noch ein bisschen erwachsener zu werden. Dass die Paarbeziehung dadurch auch besser und erfüllender wird, ist dann sozusagen ein „Kollateral-Gewinn“.

    Perspektivwechsel

    Wenn du deine Perspektive änderst, dann verrätst du dich nicht. Denn du bist nicht deine Perspektive, sondern du bist derjenige, der von einem bestimmten Standpunkt aus auf die Welt schaut. Die Dinge aus der Warte des anderen zu betrachten, kann deinen Horizont nur erweitern. Du musst anschließend ja nicht dort bleiben, aber die Anzahl deiner Möglichkeiten hat sich damit erhöht.
    Viele haben die Tendenz, sich selbst in der Liebe und in ihrer Paarbeziehung zu verlieren, weil sie alles für den anderen tun, sich anpassen, faule Kompromisse eingehen. Das genaue Gegenteil sollte der Fall sein.

    Die Liebe ist nicht dazu da, dass man sich im anderen verliert. Die Liebe ist dazu da, dass man sich im anderen findet! Nirgendwo sonst bist du mehr der, der du bist, als wenn du liebst. Liebe ist nämlich unsere eigentliche Natur.

    Ein guter Liebhaber ist deshalb nicht nur jemand, der gut im Bett ist, sondern vor allem jemand, der es hin und wieder schafft, die Perspektive des anderen ernsthaft und liebevoll einzunehmen.
    Und auf dieser Entdeckungsreise wünsche ich dir viel Freude!