Im Leben musst du immer wieder Verluste hinnehmen. Sei es, dass du Geld verlierst, deine Gesundheit – hoffentlich nur vorübergehend – oder aber einen Menschen, der dir etwas bedeutet hat. Dieser Verlust kann durch den Tod geschehen oder durch eine Trennung.
Wie aber geht man damit um? Kann man das loslassen, und wenn ja, was genau ist damit eigentlich gemeint? Auf diese Fragen versuche ich eine Antwort und gebe im Anschluss noch eine kleine Meditationsanleitung, die eventuell hilfreich sein könnte.
Youtube, Spotify, Apple Podcasts
Einleitung und Begrüßung
Und damit begrüße ich dich zu meinem Podcast! Mein Name ist Thomas Decker und das heutige Thema ist: „Verlust, Trauer und Loslassen.“
Verlieren kann man so einiges: Ein Fußballspiel, eine Schachpartie, einen Regenschirm. Einige Menschen verlieren ihre Träume und beerdigen sie dann – zumindest im metaphorischen Sinn. Man kann auch Geld verlieren und damit die Freiheit und Bequemlichkeit, die damit verbunden sind. Wer seine Gesundheit verliert, tut alles, um sie zurück zu bekommen. Bei einem verlorenen Spiel verliert man nicht das Spiel, sondern nur die Illusion eines möglichen Siegs und der dadurch empfundenen Genugtuung.
Kleine Tode
Dies alles sind „kleine Tode“, wenn man so will. Und nicht alle diese kleinen Tode sind absolut. Vieles kann man zurückgewinnen, wiederholen, neu – und womöglich sogar besser – kaufen.
Wenn man sich das Leben anschaut, von der Zelle über den Organismus, über eine Gesellschaft bis hin zur belebten Welt als Ganzes, dann ähnelt das Leben offenbar einem ständigen Werden und Vergehen, einem Geben und Nehmen, einem Auf und Ab. Stabile Zustände bleiben für eine Zeit erhalten, und dann wird ein Kipppunkt erreicht, an dem das Pendel in eine neue Richtung schwingt. Irgendjemandem wird es vielleicht zu langweilig, oder etwas hat sich in eine Sackgasse manövriert, an deren Ende nichts mehr weitergeht. Eine Sackgasse, die gleichzeitig eine Einbahnstraße ist, das war einer meiner Albträume als Kind. Der stabile Zustand wird auf natürliche oder auf mutwillige Weise zerstört oder endet einfach.
Natürlich entsteht auf diese Weise etwas Neues. Aber im emotionalen Erleben steht nicht selten die Verlusterfahrung im Vordergrund.
Atem
Der Atem ist ein Beispiel für diesen Kreislauf von Loslassen und neu gewinnen. Ich kenne niemanden, der ernsthaft das Ausatmen für weniger wichtig hält als das Einatmen. Denn nur wer ausatmet, kann wieder einatmen. Und umgekehrt. Ich kenne auch niemanden, der einem Atemzug nachtrauert. Denn im selben Moment ist man ja bereits mit dem Weiteratmen beschäftigt. Ganz davon abgesehen, dass sowieso niemand ständig seinen Atem beobachtet.
Tod
Diese Beispiele verblassen, wenn es um den Tod eines Menschen geht, der dir nahe stand. Da lässt sich nichts mehr wiederholen. Der Mensch ist unwiederbringlich weg. Du kannst nicht mehr mit ihm sprechen, ihm nicht mehr die Dinge sagen, die ungesagt geblieben sind und auch nichts mehr wieder gut machen, was möglicherweise noch zwischen euch stand.
Je näher dir der Mensch stand, umso stärker ist das Gefühl von Trauer. Dann ist der Tod nichts weiter als eine schweigende, eiskalte Mauer. Oder ein großes Nichts, das sich nahtlos hinter dem Verschwinden schließt. Übrig bleibt die Welt, eigentlich ist es genau dieselbe, wie sie vorher war – nur ohne diesen Menschen. Und deshalb ist es auch nicht mehr wirklich dieselbe Welt, sie tut nur noch so. Die Banalität des Todes widerspricht auf eine schmerzhafte Weise der dramatischen Tragödie, die du in deinem Herzen wahrnimmst. Da klafft eine unüberwindbare Lücke. In dir ist tiefe, verzweifelte Trauer. Da draußen geht aber alles – völlig ungerührt – seinen gewohnten Gang, als wäre gar nichts geschehen.
Wie der See, in den ein Stein gefallen ist. Der Stein ist er verschwunden, hinterlässt noch eine kurze Weile ein paar sanfte Wellen, die sich bald auflösen. Der See ist danach wieder ganz und gar unbekümmert und bereit für den nächsten Stein. – Das war’s.
Phasen der Tauer
Vielleicht kennst du die fünf Phasen des Trauer, wie sie die Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross beschrieben hat: Erst kommt das Leugnen: „Es ist nicht passiert!“ Dann der Zorn, die Wut über die Ungerechtigkeit. Es folgt die Phase des Verhandelns: Man versucht durch Beten, Beeinflussung, bis hin zur versuchten Manipulation durch magische Rituale den Tod ungeschehen zu machen. Da das fruchtlos bleibt, folgen erst die Depression und am Ende dann – wenn alles gut läuft – die Akzeptanz des Verlusts.
Diese Phasen verlaufen natürlich nicht so schön linear hintereinander ab, wie es klingt, sondern kommen in Wellen und in sich wiederholenden Zyklen.
Vielleicht kennst du das Gefühl beim Aufwachen, dass du nicht aus einem Albtraum erwachst, sondern dass du in den Albtraum hinein aufwachst. Es ist brutal, anders kann man es kaum nennen.
Akzeptanz?
Ich frage mich, wie man tatsächlich das Inakzeptable akzeptieren kann. Der Tod ist, als würde man „in die Sonne schauen“. Man kann nämlich gar nicht hineinschauen, es ist einfach zu viel.
Irvin D. Yalom schreibt in seinem Buch „In die Sonne schauen“ auf eine hervorragende Weise darüber. Ich empfehle dieses Buch gern, obwohl ich den Tod anders als Yalom verstehe. Er meint, dass mit dem Sterben alles aus ist. Das meine ich ganz und gar nicht. Aber es ist ein wertvolles, sehr gut geschriebenes Buch. Es geht darin um die Angst vor dem eigenen Tod. Im Zusammenhang mit Tod, Verlust und Trauer verdient der eigene Tod auch, betrachtet zu werden.
Der eigene Tod
Zum Ende des Lebens – oder auch schon lange vorher – gibt es bereits Verluste und die vielen kleinen Tode, die wir an unserem eigenen Körper beobachten. Manches, das einem älter werdenden Menschen vor ein paar Jahren noch leicht von der Hand ging, ist plötzlich nur noch mit Mühe zu schaffen. Nach und nach verschlechtert sich das Hören und Sehen. Hörgeräte und Brillen können das nur in noch in unzureichender Weise ausgleichen. Vielleicht wird es schwieriger mit dem Gehen oder mit dem Gedächtnis. Es scheint, als würde der Körper sich immer mehr von der Welt zurückziehen.
Selbstverständlich kann man auch das Glück haben, in bester Gesundheit zu altern. Dennoch lassen sich gewisse Veränderungen nicht ganz aufhalten. Dann wird es immer wichtiger, dass man innere Schätze angehäuft hat, die niemals verloren gehen können.
Am Ende wirst du nämlich die ganze Welt verlieren. Dann bist du der Stein, der in den See fällt. Alle Menschen, alles was du an materiellen Werten und Gegenständen angesammelt hast, lässt du zurück. Du wirst nicht mehr miterleben, wie es weitergeht, wie sich die Menschen, die dir jetzt viel bedeuten, entwickeln und ihr Leben gestalten.
Eine eigene Haltung zum Tod entwickeln
Das Thema dieser Woche ist etwas trübe, das gebe ich zu. Aber ich denke, dass es für das Leben wichtig ist, irgendwann eine innere Haltung zu entwickeln, die du dem Tod gegenüber einnimmst.
Es kann ein tröstlicher Gedanke sein, dass das Leben niemals aufhört und dass im Tod nur der Körper stirbt, während die Seele oder der, der du in deinem Innersten bist, unzerstörbar am Leben bleibt. Aber für nicht wenige ist es auch ein tröstlicher Gedanke, dass mit dem Tod einfach das Licht ausgeht und die Existenz aufhört. In beiden Fällen steht das Leben im Mittelpunkt der Betrachtung. In der einen, weil es ewig ist und alle Handlungen und Worte weiterhin Ursachen sind, zum Beispiel im Sinne des Karma und weil du Lernerfahrungen, die du jetzt machst, nicht noch einmal machen musst. Im anderen ist das Leben zentral, denn wenn es so vergänglich ist, gewinnt es an Bedeutung, was du damit anstellst. Du hast nämlich nur diese eine Chance, etwas Gutes damit zu bewirken.
Ich denke, dass es kostbar ist, sich mit der Vergänglichkeit anzufreunden, egal ob nur der Körper stirbt oder du am Ende gänzlich verschwindest. Sich der Vergänglichkeit bewusst zu sein und die Fähigkeit des Loslassens sind es, die das Leben und jeden einzelnen Atemzug wertvoll machen können.
Menschen, die die Endlichkeit des Körpers ignorieren und niemals versuchen „in die Sonne zu schauen“, tun so, als würden sie ewig leben. Um es mit einer modernen Worthülse zu benennen: Sie leben „nachhaltig“ und planen entsprechend. Ich stelle die These auf, und die ist wahrscheinlich nicht so neu, dass wer nicht zu sterben versteht, auch nicht zu leben versteht. Die Idee von Nachhaltigkeit basiert letztendlich auf einem Mangelbewusstsein. Und das läuft dem Leben zuwider. Das Leben ist auf Fülle und Verschwendung ausgelegt. Wer den Tod und die Vergänglichkeit negiert und sich auf ein ewiges Leben auf der Erde einrichtet, der stößt zwangsläufig auf die Endlichkeit gewisser „nicht nachwachsender“ Ressourcen.
Loslassen
Ich komme noch einmal auf den Tod zurück. Wer trauert und dabei versehentlich die gesellschaftlich akzeptierte Frist überschreitet, wird früher oder später von wohlmeinenden Freunden darauf hingewiesen, dass es jetzt langsam an der Zeit wäre, den Menschen, den man verloren hat, loszulassen. Und ich sage es ganz ehrlich: Das ist eine unverschämte und vollständig empathielose Forderung. Falls du einen Menschen verloren hast und um ihn trauerst, lasse ihn niemals los!
Trauer ist in meinen Augen eine Form, in der sich Liebe ausdrückt. Jemanden loszulassen, der gestorben ist, ist so, als würde er ein zweites Mal sterben. So geht es auf keinen Fall.
Nur nebenbei bemerkt: Es kann auch sein, dass es sich um eine andere Form des Verlustes handelt. Man kann Menschen auch verlieren, weil eine Trennung stattgefunden hat. Dann ist der Mensch der Vergangenheit nicht mehr da. Es ist dann sozusagen ein „kleiner Tod“. Aber auch da darf man mit vollem Recht trauern.
Drei Dinge, die du tun kannst
Du kannst drei Dinge tun.
Das Erste ist: Falls du in der Phase des Negierens, des Zorns oder des Verhandelns stecken geblieben bist, dann kannst du diesen Widerstand loslassen, aber nicht den Verstorbenen. Und das geht auf die folgende Weise.
Das Zweite ist nämlich: Gib dem anderen ein liebevolles Zuhause in dir, in deinen Gedanken, in deinen Erinnerungen. Bleibe im Gespräch mit dem Menschen, den du verloren hast, und frage dich: „Was würde er jetzt sagen?“ – „Was würde sie jetzt tun?“ Und dann vergegenwärtige dir noch einmal seine ganze Art, dieses Spezielle, was ihn ausgemacht hat. Du kannst den Widerstand nach und nach loslassen, aber niemals den Menschen. Bleibe mit ihm in Verbindung. Und das geht manchmal sogar besser als vor dem Verlust.
Und das Dritte ist: Mache dich – ganz allgemein – mit der Vergänglichkeit vertraut. Alles in dieser Welt ist nur vorübergehend, jeder Frühling, jeder Atemzug, jede Blüte kommt und vergeht wieder. Vom Verstand her weißt du das natürlich, aber erst wenn du damit vertraut bist – in deinem Innersten – kannst du zu einer Tiefe kommen, die das Leben so richtig lebendig sein lässt. Beginne damit, das Leben in dieser physischen Realität als einen Prozess zu betrachten und nicht so sehr als etwas Statisches. Sondern eher als eine Reise, die für dich veranstaltet wird. Auch die Verluste, die Schmerzen, die Ängste und die Unbequemlichkeiten geschehen für dich. Einen schönen Ausblick, eine liebevolle Umarmung und einen wohlschmeckenden Wein kann jeder Trottel genießen. Aber nur ein Meister kann auch das Inakzeptable akzeptieren und als etwas Wertvolles in sein Leben integrieren.
Meditation über Vergänglichkeit
Deshalb möchte ich dich einladen, mit mir zu meditieren. Es ist eine ganz einfache Sache, die auf den ersten Blick nicht sehr einladend klingt, aber sie wird deine Lebendigkeit und deine Freiheit sehr verstärken. Es ist die Meditation über die Vergänglichkeit.
Bevor ich dir die kurze Anleitung gebe, möchte ich mich jetzt schon verabschieden und die Episode so ausklingen lassen, dass du ohne weitere Führung weitermachen kannst, so lange du möchtest. Also sage ich schon jetzt: „Bis zum nächsten Mal!“
Anleitung
Und hier die kleine Anleitung. Nimm zunächst eine aufrechte körperliche Haltung ein. Am besten im Sitzen oder Stehen. Der Rücken sollte gerade und stabil sein, ohne dass du dich irgendwo anlehnst, soweit das körperlich möglich ist.
Lege die Hände in den Schoß oder auf die Oberschenkel, oder lasse sie entspannt neben dem Körper hängen, falls du stehst.
Die Augen bleiben einen Spalt breit geöffnet und ruhen entspannt auf dem Boden vor dir, ohne ihn zu betrachten.
Beginne damit, dir deinen Körper ganz bewusst zu machen. Versuche, in dieser Haltung des Körpers so entspannt wie möglich zu sein und löse die eine oder andere Anspannung noch. …
Nun richte deine Aufmerksamkeit auf den Atem und beobachte ihn, ohne ihn bewusst zu verändern.
Werde innerlich still, während du den Atem weiter beobachtest. Manchen Menschen ist die Beobachtung des Atems unangenehm. Wenn das bei dir der Fall ist, richte deine Aufmerksamkeit auf die Geräusche und lausche. Aber vermeide es, dir zu den Geräuschen Geschichten auszudenken. …
Werde nun noch stiller. Du kannst deine Gedanken vermutlich nicht ganz zum Schweigen bringen. Es muss nicht perfekt sein. Halte dich nicht mit Perfektionismus auf. Still heißt, dass von dir keine Aktion mehr ausgeht, du greifst nicht mehr ein in den Lauf der Dinge, sondern lässt alles geschehen, wie es ist. Still werden heißt, den Widerstand oder deinen Tatendrang nach und nach verebben zu lassen.
Dann mache dir diese eine Sache bewusst, nämlich, dass jeder Atemzug – oder jedes Geräusch – einen Anfang hat und ein Ende. Es wird nie wieder dasselbe sein. Jedes Vorkommnis ist einzigartig und geht unwiederbringlich verloren, und dann kommt wieder ein neuer Atemzug, ein neues Geräusch. Jedes Ereignis ist frisch und ganz neu. Und dann ist es schnell vergangen und kommt niemals wieder, vielleicht ähnlich, aber nie wieder dasselbe. Mache dir das Wechselspiel vom Werden und Vergehen bewusst. Und mache dir auch bewusst, dass dies für dich gilt und für die ganze Welt. Es ist alles nur ein Prozess mit einem Anfang und einem Ende. Und am Ende kehrt nie wieder etwas zurück. Es ergibt keinen Sinn, ein Hundebellen, ein Hupen oder ein Vogelzwitschern festzuhalten. Es ergibt keinen Sinn, einen Atemzug festzuhalten.
Führe diese Meditation so lange durch, wie du magst. Diese Aufzeichnung endet hier.
Also halte nichts fest, und lasse das Leben durch dich hindurchfließen. Alles geschieht für dich.
Alles.